Fachleute kritisieren Gesundes-Herz-Gesetz

Vertreter der Krankenkassen haben den Entwurf zum Gesundes-Herz-Gesetz anlässlich einer Fachanhörung im Bundesgesundheitministerium als missraten bezeichnet.

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Im Rahmen des vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) entworfenen Gesundes-Herz-Gesetzes sollen kardiovaskuläre Risikofaktoren wie erhöhtes LDL-Cholesterin, Hypertonie und Diabetes möglichst früh erkannt und therapiert werden. „Wir machen ein Gesetz nur für das Herz – ‚Gesundes-Herz-Gesetz‘ “, hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bereits im April auf dem BILD-Herzgipfel vor 100 Fachleuten noch unter dem Applaus der Deutschen Herzallianz betont. Kritik entzündete sich bei der gestrigen Fachanhörung im BMG besonders an dem Plan, 5- bis 6-Jährige im Rahmen der U9-Untersuchung und Babys (U1) auf die seltene Erbkrankheit familiäre Hypercholesterinämie zu screenen. Damit sollen frühe Herzinfarkte durch die Gabe von Statinen verhindert werden und auch die Identifizierung weiterer gefährdeter Familienangehörige per Kaskadenscreening wäre möglich. Denn – anders als noch vor einiger Zeit gedacht – sind die meisten Herz-Kreislauf-Krankheiten – ähnlich wie Obesitas – nicht ausschließlich Lifestyle-Krankheiten. Eine große Rolle spielen genetische Veranlagungen.  Nach Informationen von |transkript ist das besonders umstrittene U1-Screening aus fachlichen Gründen vom Tisch.

Besonders scharfe Kritik gab es gestern anlässlich der kurz vor die parlamentatische Sommerpause gelegten Fachtagung von der früheren Unionspolitikerin und Biotechnologin Dr. Carola Reimann, aktuell Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes. „Dieser Gesetzentwurf ist komplett missraten. Die Ampel-Koalition täte gut daran, ihn schnell zurückzuziehen“, so Reimann. Sie empfahl die Primärprävention konsequent zu fördern und durch bevölkerungsweite Maßnahmen den Konsum von Tabak, Alkohol und ungesunden Lebensmitteln das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen zu reduzieren. Die Früherkennungsuntersuchungen und damit vermutlich forcierte Verschreibung von Cholesterinsenkern bezeichnete sie als „sinnlos“, solange die Früherkennung ohne Nutzennachweis durch den G-BA beziehungsweise das IQWIG erfolge. Die nach Worten Reimanns „detaillierten medizinischen Vorgaben für den breiten Einsatz von Statinen“ durch den Gesetzgeber bezeichnete sie als „Staatsmedizin nach dem Rezept Pillen statt Prävention“. Es sei eine Zweckentfremdung der Präventionsgelder für diagnostische und kurative Maßnahmen. Damit stünden die 100.000 zertifizierten Kursangebote für Bewegung, Ernährung, Stressreduktion und Suchtprävention mit zur Disposition. „Das kann nicht Sinn und Zweck eines Gesundes-Herz Gesetzes-sein“, so Reimann.

Kritik kam auch von der Bundesärztekammer (BÄK), dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und dem gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Deren Interessenvertreter bezweifelten, dass das Gesetz sein Ziel erreichen könne, die Zahl der Herz-Kreislauf-Toten zu senken. Besonders der breite Einsatz von Statinen bei Jüngeren sei „nicht evidenzbasiert“. Auch das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (EbM) hält die geplante Ausweitung von Leistungen der GKV ohne eine vorherige systematische und transparente Bewertung von Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit für problematisch.

Die Regelungen zum Einsatz von Screeninginstrumenten zur präventiven Verordnung von Statinen sowie zur medizinischen Beratung in Apotheken seien nicht auf Grundlage einer systematischen, öffentlich zugängli­chen Bewertung von Nutzen, Schadensrisiken und gesundheitsökonomischen Effekten erstellt worden. Ex-IQWiG-Chef Jürgen Windeler nannte den Gesetzentwurf sogar „völlig gaga“.

Der im Rahmen des Digimed Bayern-Projektes vor fünf Jahren begonnenen Vroni-Studie zufolge, bei der zunächst Blutproben von 10.000 Kindern auf LDL-Cholesterin in Kooperation mit der AOK Bayern gescreent wurden, konnten 104 Kinder mit hohem Risiko für familiäre Hyercholesterinämie und frühen Herzinfarkt durch 500 kooperierende Kinderarztpraxen identifiziert werden. Dies zeigt, dass entsprechend gestaltete Präventionsmaßnahmen durchaus evidenzbasiert sind, nur nicht durch die dafür zuständigen Bundesbehörden  oder das EbN geprüft werden konnten, da es sich um ein landesgefördertes Projekt der sogenannten P4-Medizin handelt. Bereits seit geraumer Zeit trommeln die in der Nationalen Herzallianz organisierten kardiologischen Fachverbände für eine bundesweite Nationale Herzstrategie, die digitale und Screeningmaßnahmen einsetzt, um die Prävention im Sinne der P4-Medizin zu stärken. Laut Prof. Dr. Heribert Schunkert vom Herzzentrum München, der Digimed Bayern mitkoordiniert, geht es darum, die 10% bis 15% der Patienten, die ein sehr hohes Herzinfarkt- oder Arterioskleroserisiko haben, frühzeitig zu identifizieren und durch entsprechende Maßnahmen zu schützen. Über eine ebenfalls im Rahmen von Digimed Bayern identifiziert Herzfit-App lässt sich das individuelle Risiko für kardiovaskuläre Krankheiten identifizieren und das Risiko durch Lebensstiländerungen – etwa durch Aufgeben des Rauchens – senken. Neben genetischen Faktoren untersuchen verschiedene Digimed-Arbeitspakete auch den Einfluss von Umweltfaktoren auf die Manifestation von Herz-Kreislauf-Erkrankungen – ein Modell für ganz Deutschland?

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